Sprache ist Stimme

"Sag mal, was ist Einsamkeit?"

Nico betrachtete seine Hände. Sie lagen vor ihm auf dem Tisch: wie Fremde, die ihn auf seinem Leben begleiteten. "Kennen wir uns?", sprach es in ihm.

"Vertrautheit", antwortete er mit klarer Stimme.

 

Marco nickte.

"Weißt du: Pia ist gestorben."

Nico zuckte zusammen. Unwillkürlich hörte er Pia sprechen.

"Der Pflegedienst war bei ihr. Sie hatten sie geweckt.

Beim Aufstehen versagte der Kreislauf, ihr Herz."

 

Nico begegnete Pias Blick. Überrascht schwebte er zwischen Kommen und Gehen, im Niemandsland der Zeit.

"Sie war eine Persönlichkeit."

Marcos Nicken schien in Zeitlupe zu verschwinden.

 

"Glaubst du an Abschied?"

"Nein. Es gibt nichts zu verabschieden."

Marco lächelte.

"Möchtest du sie noch mal sehen?"

"Ich sehe sie, solange ich lebe. Das hört nicht auf."

"Deine Hände zittern."

 

Marco legte seine darüber.

"Das Leben geht weiter."

"Kennen wir uns?"

"Müssen wir das?"

 

Dämmerung setzte ein. Ein Schimmer von Tageshelligkeit lag im Raum. "Die Straßenbeleuchtung geht gleich aus", ging es Nico durch den Kopf.

"Suchen wir Reibung, um der Einsamkeit zu entkommen?"

 

"Egogefühl kennt keine Einsamkeit. Es ist sich selbst genug."

"Ich meine: Reibung ins Gemeinsame hinein."

"In die Erinnerung."

"Abseits vom Tod."

"Abseits vom Leben."

 

Marco und Nico schauten auf ihre Hände. Sie lagen noch immer zusammen auf dem Tisch. Sie hatten sich beruhigt, gegenseitig miteinander.

"Blind und taub ist die Einsamkeit, dunkel und still.

Sie drängt sich zwischen uns Menschen."

"Es sei denn, ein Kuss berührte ihre Welt."

 

Marco lächelte. Er schaute Nico in die Augen. Flüchtig hielt er sich in der Sinnlichkeit des Augenblicks.

"Schweigen ist die schönste Berührung der Welt."

 

Nico stand auf. Er stützte sich auf die Stuhllehne.

"Weißt du, wir selbst sind die Worte, die die Stille füllen."

Marco nickte: "Wir sind Literatur."

"Eine Installation Gottes in den Weiten des Kosmos."

"Zwischen Milliarden Jahren."

"In der Mitte der Endlosigkeit."

 

"Ob man die Welt verkaufen kann?"

"Na ja, vielleicht fälschen..."

"Sind wir nicht eine Fälschung unserer selbst?"

"Klar! Merkt ja keiner."

Nico lachte.

 

"Ist Kreativität die einzige Freiheit, die wir haben?"

Marco schaute ins Leere.

"Was ist mit Liebe?"

"Jemand schrieb einmal: Liebe ist größer als alles in der Welt,

aber Zärtlichkeit ist noch größer als sie."

 

"Und Vertrautheit?"

"Die Bühne, in der sich unsere Würde entfaltet."

"Unantastbar."

"Unberührbar, wie eine Kaste."

 

"Unsere Freiheit verbirgt sich der Betrachtung. Wir spielen hinter den Kulissen. Die Theaterbühne ist leer."

 

"Meinst du, wir sollen das Geistige bleiben lassen?"

"Genauso gut kannst du die Luft anhalten, dich tot stellen. -

Ein Same wächst nicht überall."

"Also alles um uns herum ein Wuchern auf dem Fluss der Ressourcen?"

"Vergiss nicht: Menschliches Wuchern!"

 

"Ist das Geistige der Moder der Nacht?"

"Ohne die Nacht würde sich das Leben erschöpfen. Es käme aus seinem unermüdlichen Müssen nicht heraus. Die Reizarmut der Nacht bringt Klärung, sänftigt, lässt vergessen. Nicht alles erwacht am Morgen, was sich abends zur Ruhe legt."

"Leben ist die schönste Art zu begraben."

"Der Zug des Lebens ist nicht nur ein Film."

 

"Also doch zurück auf Kreativität."

"Für uns oder für alle?"

"Die Menschheit lebt."

"Wie die Sterne im Himmel."

Poesie als Gespräch

 

Branko Stahl

 

Lyrik

Auszug aus:  über dem Abgrund beginnt das Fliegen